Bahn verlangte undurchführbare Sicherheitsvorkehrungen
Genoveva streichelt Lamm 342. Auf dem Ladegleis des Gewerbegebiets kommen gerade Kabeltrommeln für den Bau der neuen Freileitung an.
Wildenranna, 24. April (Eigener Bericht). Ein Hund hat der Schäferei Pümbel in Wildenranna vorerst die Existenz gesichert. Hätte er nicht den Besitzer gewechselt, hätte das Kleinunternehmen schließen müssen. Die Bahn, deren Gleise an zwei Seiten der Weide vorbeiführen, hatte Sicherheitsauflagen in unerfüllbarer Höhe verlangt.
„Die wollen mich fertigmachen“, hatte Schäfer Wilhelm Pümbel vor einigen Wochen beim Stammtisch abends im Dorfkrug geklagt. Er zog ein amtliches Papier aus der Tasche und zeigte es herum. „Ich soll nun auch noch auf der anderen Seite einen zwei Meter hohen Zaun ziehen“, sagte er. „Und das Allerletzte: Ich soll meine Tiere anbinden, damit sie nicht auf die Gleise laufen!“
Genoveva F. war empört. „Die armen Tiere!“ Sie riet Schäfer Pümbel, Widerspruch einzulegen. „Da gewinnst du Zeit. Das geht bei jedem amtlichen Bescheid.“
Fahrdienstleiter Hans Neuerburg, der frei hatte und deshalb auch mit am Tisch saß, kaute gerade ein Stück Lammkeule. Als er fertig war, meinte er unter den bösen Blicken Pümbels: „Ich kann da nichts für. Guck doch auf den Absender.“ Tatsächlich kam das Schreiben aus Neustadt und nicht aus der Regionaldirektion Etwashausen. „Da war doch neulich mal was mit den Schafen auf den Gleisen, die einen Zug zum Entgleisen gebracht haben. Deshalb wollen die jetzt wahrscheinlich auf Nummer Sicher gehen“, versuchte er um Verständnis für die Bürokraten zu werben.
„Ja, das war aber doch auf einer Schnellfahrstrecke“, sagte Genoveva. „Aber hier fahren die Züge doch ganz langsam, so viel verstehe ich auch vom Bahnfahren.“ Außerdem seien seine Schafe intelligent genug, nicht auf den Schienen nach Gras zu suchen, fügte Pümbel hinzu.
Am nächsten Tag sprach er mit Rechtsanwalt Michael Fürst. Dann setzte er sich hin und schrieb einen Brief an die Bahndirektion Neustadt, in dem er Widerspruch einlegte. Er wies darauf hin, dass die Weide von dem Bahnhofsgleis im Nordosten bereits durch einen Zaun getrennt sei, den seine Schafe weder überwinden könnten noch wollten. Hinsichtlich des nicht mit einem Zaun von der Weide getrennten Gewerbegleises am Südrand warf er die Frage auf, wer denn eigentlich für den Schutz der Bahnanlagen verantwortlich sei? Schafzucht werde hier bereits seit Jahrhunderten betrieben, das Gewerbegleis sei aber erst vor etwa einem Jahr dazugekommen. Also sei die Bahn auch dafür zuständig, ihre Anlagen zu schützen.
Die Weide ist von dem Bahnhofsgleis durch einen Zaun getrennt.
Fürst, der für unkonventionelle Problemlösungen bekannt war, hatte Pümbel schon bei der Beratung gefragt: „Haben Sie eigentlich einen Schäferhund?“ Der Schäfer hatte den Kopf geschüttelt: „Seit mein Cäsar gestorben ist, habe ich keinen wieder angeschafft. Es geht doch auch so.“
Ein paar Tage später kam Genoveva auf die Weide. „Ich wollte mir Ihre Schafe mal ansehen“, begann sie, als sie durch die große Tür des Schafstalls trat. „Ach wie süß!“, rief sie und stürzte sich auf ein weißes Lamm in der Herde, das erst einen kleinen Sprung zur Seite machte, sich dann aber willig streicheln ließ. „Wie heißt es denn?“
„342“, sagte Pümbel. „Ich nummeriere sie einfach durch. Dann fällt mir das Abgeben zum Schlachten nicht so schwer.“ Genoveva war enttäuscht. „Ich esse nie wieder Lamm“, versprach sie. „Aber Wollpullis tragen Sie doch noch?“, fragte Pümbel vorsichtig. „Ja klar, die Wolle wächst ja nach“, sagte sie. „Übrigens, wie hieß gleich wieder Ihr Hund damals?“ – Cäsar“, sagte der Schäfer. „Da fällt mir was ein. Neulich habe ich in Etwashausen eine alte Dame getroffen, die führte ihren Hund spazieren. Wissen Sie, wie der hieß? Caligula“, gab sie sich gleich selber die Antwort. „Das ist bestimmt ein Nachkomme von Cäsar“, meinte Pümbel. Vor einigen Jahren sei er mit seinem Hund mal in der Stadt gewesen, und da sei er mit einer Besitzerin der Schäferhündin ins Gespräch gekommen und so weiter. Jedenfalls habe es am Ende ein paar Welpen gegeben, die alle römische Namen bekommen hätten.
Genoveva sah ihn aus dem Augenwinkel an. „Die alte Dame klagte übrigens, dass es ihr langsam zu viel werde, den großen Hund immer ausführen zu müssen…“
Schäfer Pümbel hatte verstanden. „Ehrlich gesagt, ich habe auch schon darüber nachgedacht, mir wieder einen Hund zuzulegen“, gestand er. „Wie heißt die Dame?“ Genoveva sagte ihm zu, die beiden miteinander bekannt zu machen, und so kam Caligula zu Pümbel. Die beiden verstanden sich auf Anhieb. Der Schäfer trainierte den Hund, aber er merkte gleich, dass der seine Aufgabe gewissermaßen im Blut hatte.
Pümbel hatte mit Fürst gesprochen, dieser hatte Neuerburg gebeten, sich bei seinen Vorgesetzten für den Schäfer einzusetzen, und bald erhielt der Anwalt ein Schreiben von der Bahndirektion, in der sie sich bereiterklärte, versuchsweise den Schäferhund als zusätzliche Sicherheit dafür zu akzeptieren, dass kein Schaf auf das Gewerbegleis läuft. Weitere Schritte behielt sich die Bahn allerdings vor. „Das kannst du vergessen“, sagte Fürst, als er Pümbel das Schreiben übergab. „Die wollen doch nur nicht ihr Gesicht verlieren.“
Caligula (oben) passt schön auf, dass kein Schaf den Zugverkehr stört. Und alle sind zufrieden.
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