Auto für die Unterstützung Streikender in Etwashausen vorgestellt
Etwashausen (Eig. Ber.) Die konservativen Politiker und Wirtschaftsleute sind verunsichert: Die Gewerkschaft stellte am Samstag ihr neues Streikmobil ausgerechnet in Etwashausen vor. Als Begründung führte ihr Sprecher Willi Groß bei dem kleinen Festakt am Marktplatz an: „Weil die Stadt vorbildlich Tradition und Moderne verbindet.“
Wie die „Etwaigen Nachrichten“ recherchierten, scheint es in manchen Kreisen der Stadt Vorbehalte gegen die Arbeiterorganisation zu geben. Nach Informationen aus Gewerkschaftskreisen sollte es ursprünglich eine Pressekonferenz im Gasthof „Zur Post“ geben, aber die Leitung des Hotels erklärte, wegen einer Festveranstaltung seien alle Konferenzräume belegt. Als dann am Mittag der Bus auf dem Marktplatz erschien, ergab eine kurze Nachschau, dass alle Gasträume der „Post“ bestenfalls mäßig belegt waren.
Der VW-Bus wurde frühmorgens am Autogleis des Güterbahnhofs von einem Zug gebracht und umgehend auf den Straßentieflader gefahren, um nicht allzu viel Schmutz aufzunehmen, bevor er in die Stadt einrollte.
Vor dem Bahnübergang an der Hauptstraße wurde er wieder abgeladen, damit er stilvoll am Marktplatz
vorfahren konnte. Als er an der Farben AG vorbei kam, beäugte ihn ein dunkel gekleideter Herr misstrauisch und machte sich Notizen, Fritz P., der rein zufällig Zeuge dieses Vorfalls wurde, erhielt auf Nachfrage keine Begründung für dieses konspirative Verhalten, das in der Stadt sonst nicht üblich ist. So beließ er es bei dem Hinweis, dass die schwarz-rote Farbe des Bullis, parteipolitisch gesehen, ja schon auf eine versöhnliche Haltung der Arbeitnehmer hindeute, solange ihnen regelmäßige Lohnsteigerungen sicher sind.
Der Wagen kam unbeschädigt und unbehindert am Marktplatz an, und als er vor dem „Hexenhaus“ – seinen Giebel ziert eine Brockenhexe auf dem Besen – Aufstellung genommen hatte, sagte die Marktfrau von gegenüber: „Was wollt ihr denn mit Streik? Uns geht es doch gut!“ “Jetzt gleich wollen wir gar nicht streiken“, sagte Groß, „wir wollen ihnen nur mal die Instrumente zeigen, damit sie wissen, was auf sie zukommt, wenn sie in den Verhandlungen keine ordentlichen Angebote machen.“
In seiner kurzen Ansprache, die leider nur von geringen Teilen der Bevölkerung beachtet wurde, wies Groß denn auch darauf hin, dass bald Wahlen seien und dass die Politiker sich nur nicht einbilden sollten, dass es in dieser Zeit ein Stillhalteabkommen gebe. Zugleich stellte er klar, dass Warnstreiks oder gar richtige Arbeitsniederlegungen nur das letzte Mittel seien.
An die Eisenbahner, die ihm zuhörten, appellierte er, sich nicht alles gefallen zu lassen. Die gewerblichen Arbeitnehmer würden bei eventuellen Warnstreiks die Sache der Beamten mitvertreten. Im Frühjahr stehe wieder eine Tarifrunde an, und diesmal solle aber wirklich ein größerer Schluck aus der Pulle genommen werden, nachdem man sich in den letzten Jahren stets zurückgehalten habe, um das Wirtschaftswunder nicht zu gefährden.
„Schluck aus der Pulle! Wer’s glaubt“, sagte leise Hemmschuhleger Walter Vollmer. „Bis jetzt hat es immer gerade zum Inflationsausgleich gereicht.“ Groß ließ sich nicht beirren. Der Wagen jedenfalls solle eventuelle Warnstreiks unterstützen, indem in ihm die Flugblätter transportiert würden und das Megaphon und die Thermoskannen mit dem Kaffee. „Und die Flachmänner mit dem Doppelkorn“, ergänzte Vollmer. Zugchef Ludwig Schwerin, der neben ihm stand, sagte: „Was machen Sie denn da mit dem Hemmschuh?“ – „Ach, den hab ich immer dabei. Man weiß ja nie“, antwortete Vollmer. Groß, der mit seiner Rede fertig war, kam zu ihnen, und so kamen sie ins Gespräch. „Wir werden noch mehr von diesen Wagen bestellen, damit wir eine schlagkräftige Truppe bilden können.“
Da am westlichen Himmel dunkle Wolken aufzogen, setzten sie ihr Gespräch in der Wirtschaft fort. Da die „Post“ aus nahe liegenden Gründen nicht in Frage kam, fuhren sie mit dem Streikmobil bis zum Dorfkrug.
Dabei kamen sie auch auf die Arbeitsbedingungen im Bahnhof zu sprechen. „Jetzt soll es ja bald einen Autozug aus Frankreich geben, nachdem der Kurswagen aus Paris so gut angenommen worden ist“, erzählte der Zugchef. Groß hatte auch schon davon gehört. „Manchmal stelle ich mir vor, dass die Gewerkschaften auch grenzüberschreitend aktiv werden. Das würde sicher helfen, die Interessen besser gegenüber dem Arbeitgeber zu vertreten, besonders jetzt, wo Deutschland und Frankreich so eng befreundet sind.“
Da dachte selbst Vollmer über seine Heimat hinaus: „Oh ja, nach Paris wollte ich schon immer einmal. Auch wenn Streik nur das allerletzte Mittel ist…“
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