Nummer 87: Ein Baum muss fallen

Bahn macht Protestierern überraschend ein Angebot

Der kleine Sohn von einer der Protestierenden setzte sich frech in den Waggon der Holzfäller. Auf dem Baum saß die „Weiße Gruppe“ in den Ästen und blockierte die Aktion vorübergehend, während auf dem Bahnhofsvorplatz Flugblätter verteilt wurden.

Etwashausen, 16. August (Eigener Bericht) Auch eine Baumbesetzung hat das Fällen einer Fichte auf dem Etwashausener Bahnhofsgelände nicht verhindert. Bahnchef R.G. schaltete sich persönlich ein, um den Konflikt zu entschärfen. Er sicherte den Protestie- renden zu, zehn Bäume an anderer Stelle zu pflanzen. Für das Abholzen der Fichte machte er Sicherheitsgesichtspunkte geltend.

Eigentlich sollte ein Trupp Holzfäller den Baum „ruck-zuck“ fällen, wie der Regionalbeauftragte Gerhard Schlupp sich ausdrückte. Aber mehrere Frauen und Männer hatten irgendwie Wind von der bevorstehenden Abholzung bekommen und kurzerhand den Baum erklommen. Einer von ihnen war der stadtbekannte Alt-68er Klaus-Dieter Schulze-Hartnack. Gesinnungsgenossen verteilten am Bahnhofsvorplatz Flugblätter, mit denen sie auf ihren Protest gegen das Baumfällen hinwiesen. Ganz in Weiß gekleidet, fielen sie weithin auf. Als die Holzfäller ankamen, weigerte die „Weiße Gruppe“ sich kategorisch, ihn wieder zu verlassen. Die Fichte sei schon alt und drohe umzustürzen. Deshalb stelle sie eine Gefahr für den Zugverkehr dar, argumentierte die Bundesbahn demgegenüber.

Am Ort des Geschehens hatten sich inzwi- schen ein paar Schaulustige eingefunden, unter ihnen auch Genoveva F. Schlupp er- klärte, der Protest habe den Verkehr auf Gleis 2 erheblich behindert. Er räumte ein, mit derartigem Widerstand nicht gerechnet zu haben. „Von der ‚Weißen Gruppeʼ habe ich noch nie was gehört.“ Zu Gerüchten, er habe die Protestierenden zunächst mit Ge- walt vom Baum holen wollen, sagte er nichts. Es war Bahnchef R.G. selbst, der sich einschaltete, als er von den unversöhn- lichen Positionen erfuhr.

Nur noch ein Stamm unter vielen. Was ehemals eine stolze Fichte war, wird hier mit Ziel Möbelfabrik verladen.

Schlupp ging daraufhin zu den Baumbesetzern und unterbreitete ihnen zähneknirschend das „Friedensangebot“ des Bahnchefs. „Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir euch da oben noch eine Weile sitzen lassen und euch hinterher eine Rechnung über unsere Unkosten geschickt“, brummte er sichtlich ungehalten. „Aber gut, hier das Angebot der Bundesbahn: Wir pflanzen zehn hochwertige Bäume in Wildenranna und Etwashausen, und ihr lasst uns die Fichte fällen. Die Medienleute hier“ – er zeigte auf Reporterlegende Fritz P. und einen Kameramann, die ihn begleiteten – „sind unsere Zeugen.“
Schulze-Hartnack begann daraufhin den Abstieg vom Baum, die anderen folgten. Die
Holzfäller hatten sich zurückgezogen, und der Sohn einer der Protestiererinnen hockte sich in die offene Tür des Mannschaftswagens. „Wenn ich groß bin, werde ich auch mal Holzfäller“, sagte er zu seiner Mutter, die daraufhin fast in Tränen ausbrach. Sie gab Schlupp, der deshalb schon wieder gute Laune hatte und ein Schmunzeln kaum unterdrücken konnte, die Hand. Genoveva verabredete sich mit einer Besetzerin am Abend im Dorfkrug.
Kaum hatten die Holzfäller freie Bahn, starteten sie die Aktion an der Fichte. Die Säge kreischte, Ast für Ast fiel zu Boden, und schließlich legten sie den Stamm um. Der wurde zum Güterbahnhof gebracht und mit anderen Stämmen auf den Langholzwagen gehievt. „Wohin fährt das Holz denn?“, fragte eine der Baumbesetzerinnen, die zum Ladegleis gegangen war, um dem Abtrans- port zuzusehen. „Zur Möbelfabrik“, sagte der Lademeister.
Abends traf sich Genoveva nicht nur mit ih- rer neuen Freundin im Dorfkrug. Es kamen gleich alle Besetzer. Wirt Egon Pielke hatte einen großen Tisch vor die Tür gestellt, an dem sich alle versammelten, und verkündet, dass die Getränke alle auf die Bundesbahn gingen. „Ihr sollt zusammen mit ihr die zehn neuen Bäume feiern“, sagte Pielke.

Abends im Dorfkrug wurden die zehn neuen Bäume gefeiert. Die Kamera war zwar aufgestellt worden, durfte aber nicht filmen.

Auch das Kamerateam hatte Wind von der Sache bekommen und sein Gerät aufgebaut. Aber filmen durfte es nicht. „Mal wollen wir auch unter uns sein“, sagte Schulze- Hartnack und bot den Medienleuten einen Platz am Tisch an. Und so feierten sie alle zufrieden bis tief in die Nacht.

... berichtet regelmäßig in den “Etwaigen Nachrichten” (EN) über die Ereignisse in Etwashausen. Sie erreichen Fritz P. per Elektronischer Post über das Kontaktformular oder über folgende Anschrift:

Reporterlegende Fritz P.
Etwaige Nachrichten
Hauptstraße / Markt
Etwashausen

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