Plötzlich stand die Elektrolokomotive ohne Strom da –
Etwashausen, 11. März (Eigener Bericht) Einige Passagiere mussten am Freitag ihren Zug ein Stück weit schieben. Die kleine E-Lok war ausgerechnet unter einem Isolierstück der Oberleitung stehen geblieben, an einer Stelle, an der der Stromabnehmer keinen Kontakt mit der Metallleitung hatte. Lokführer Wieland Hellmich brachte einige Fahrgäste dazu, Lok und Wagen etwa anderthalb Meter weit zu schieben, bis sie wieder Kontakt zur Oberleitung hatte. Das letzte Wort über diese Geschichte ist aber offenbar noch nicht gesprochen.
Wie üblich, hatte Hellmich vor der Einfahrt ins Gleis 2 des Etwashausener Bahnhofs die Geschwindigkeit auf etwa 20 km/h gedrosselt, als die alte E 69 leicht ruckelte und schließlich stehen blieb. Der Strom war weg. Hellmich überprüfte die Bordsysteme, soweit das ohne Energieversorgung möglich war.
Er konnte keine Fehler feststellen und stieg aus, um außen nachzuschauen, woran der Blackout wohl liegen mochte. Auf der Plattform des ersten Wagens stand Schaffner Bernd Obermüller. „Was ist denn los?“, fragte er.
Ein Blick nach oben brachte das Dilemma an den Tag: Die Lok war ausgerechnet an einem Isolierstück der Oberleitung zum Stehen gekommen. Die Isolierstücke trennen verschiedene Stromkreise oder Blockstrecken, damit die Sicherheit des elektrischen Zugbetriebs gewährleistet ist. Direkt unter den Isolierstücken gibt es auf einer Länge von wenigen Zentimetern keinen Strom. Normalerweise rutschen die Stromabnehmer klaglos unter diesem Stück durch. Diesmal aber offenbar nicht.
Was war zu tun? Hellmich überlegte kurz und ging dann zum ersten Wagen, auf dessen Plattform schon einige Fahrgäste standen und ihn fragend ansahen. „Der Stromabnehmer steht genau auf einem eigentlich ziemlich kleinen stromlosen Stück der Oberleitung“, sagte Hellmich und zeigte nach oben. „Wir müssen wohl eine andere Lok zum Abschleppen kommen lassen.“
Hedwig Munke, die Freundin von Genoveva F., schaute zur Oberleitung hinauf und meinte: „Wie lang ist das stromlose Stück denn?“
„Vielleicht zehn Zentimeter“, antwortete Hellmich.
„Kann man die Lok schieben?“, fragte Hedwig.
„Äh… nee“, sagte der Lokführer, dachte ein wenig nach und korrigierte sich: „Wenn man die Bremse löst, könnte es gehen.“
„Worauf warten wir noch?“, sagte Feuerwehrmann Herbert Schodrowski, der von Wildenranna auf dem Weg zur Schicht war, und machte Anstalten, hinunter zu steigen.
„Moment mal! Das Betreten des Gleiskörpers ist verboten“. Hellmich hob die Hände, aber nur halbherzig.
„Kommen Sie heraus“, sagte Schodrowski und blickte den Lokführer fordernd an. „Not kennt kein Gebot.“
„Ich mache auch mit“, gab sich Hedwig Munke entschlossen. Es fand sich noch ein anderer Fahrgast, der beim Schieben helfen wollte.
Ein vierter jedoch, der im 1.-Klasse-Abteil gesessen hatte, stieg aus, sorgfältigst einen Fuß vor den anderen setzend, und schimpfte: „Irgendwas geht ja bei dieser Bahn immer schief! Jetzt müssen die Passagiere schon selber schieben. Ich will mein Fahrgeld zurück!“ Er sah Hellmich fordernd an. „Da müssen Sie sich an Schaffner Obermüller wenden“, sagte der. „Worauf Sie sich verlassen können“, brummte der Fahrgast und stieg wieder ein.
„Gut“, sagte Hellmich nach kurzem Überlegen. Er ging zurück auf den Führerstand, senkte den Stromabnehmer, stieg aus und nahm Befehlston an. „Es ist ja auch gefährlich“, dachte Hedwig, die diesen Ton eigentlich nicht leiden konnte. „Keiner geht hinter die Lok“, befahl Hellmich. „Das Gleis ist leicht abschüssig; wenn ich jetzt die Bremse löse, müsst ihr die Maschine rückwärts schieben. Wenn der Stromabnehmer dann wieder an den Draht gedrückt werden kann, drehen wir die Bremsen des Waggons und der Lok fest.“ Er stieg auf seine Lok und löste die Bremse. „Und los!“, brüllte er aus dem Fenster. „Hau … ruck!“ Hedwig schob am Puffer, so fest sie konnte, unterstützt von Schodrowski, Obermüller und dem dritten Fahrgast.
Die Lok setzte sich gaaanz langsam in Bewegung. Hedwig schmierte sich natürlich ihr schönes hellgrünes Kleid am Puffer ein. Als sie etwa einen halben Meter geschafft hatten, rief Hellmich: „Es reicht!“, drehte die Bremse fest und stieg wieder aus.
Hedwig schnaufte noch, als er ihr die Hand gab. „Klasse gemacht!“, sagte er und klopfte auch Schodrowski auf die Schulter. Jetzt steigen Sie mal wieder ein, dann lege ich den Stromabnehmer wieder an, und dann fahren wir in den Bahnhof ein.“ So geschah es.
Dort angekommen, wurden sie schon von Bahnhofschef Jacob Claus empfangen. „Na, du bist ja ganz schön spät dran“, sagte er zu Hellmich. Der begann, die ganze Geschichte zu erzählen, wurde aber von dem wütenden Fahrgast aus dem 1.-Klasse-Abteil unterbrochen, der mit rotem Kopf rief: „Das wird ein Nachspiel haben! Kann ich mal Ihren Chef sprechen?“ Schon wieder Befehlston, dachte Hedwig, die inzwischen auch dazu gekommen war.
„Ich bin der Chef“, sagte Claus. „Also ich habe eine Beschwerde. Und zwar eine Dienstaufsichtsbeschwerde“, sagte der Fahrgast.
Da bringe ich ihnen gleich mal das Formular. Wir sprechen später weiter“, sagte Claus zu Hellmich und verschwand im Bahnhofsgebäude. Sekunden später kam er mit dem Formular zurück und sagte zu dem Fahrgast: „Hier bitte. Das müssen Sie ausfüllen, und ich leite es dann weiter.“
„Was?“, entrüstete sich der Fahrgast. „Unverschämtheit!“
„Oder Sie übergeben die Sache einem Anwalt.“ Claus blieb kühl und sachlich. Der Fahrgast blätterte in dem Vordruck. „Sieben Seiten! Das ist ja wohl das Letzte! Sie werden noch von mir hören.“ Sprach’s, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in Richtung Stadt.