Nummer 107: Fälschlich an den Eilzug gekuppelt

Postwaggon landete als Irrläufer am Ladegleis


Die Oberpostinspektorin Anita Behling ist entsetzt. „Der gehört doch überhaupt nicht hierher“, sagte sie beim Anblick des Postwaggons, den die Etwashausener Post-Köf ins Ladegleis gezogen hatte. “Ich kann nichts dafür“, wehrte sich Lokführer Wieland Hellmich schon mal vorsorglich gegen etwaige Anschuldigungen.

Etwashausen, 27. Juni (Eigener Bericht). Den falschen Weg hat ein Postwaggon genommen, der am Freitag in der Stadt ankam. Er sollte eigentlich von Hannover nach München transportiert werden, wurde aber offenbar in einem auf dem Weg liegenden Rangierbahnhof fälschlich an den Eilzug von Neustadt nach Etwashausen gekuppelt. Nachdem der Fehler bemerkt worden war, musste er mit dem Nahverkehrszug wieder zurück nach Neustadt gebracht werden.

In Etwashausen war der Waggon diesmal sehnlichst erwartet worden, weil die hiesige Postverwaltung neben den üblichen Briefen und Päckchen einiges an Sendungen aufzugeben hatte, unter anderem zwei Briefkästen und einen Schreibtisch, der zur weiteren Verwendung nach Neustadt gebracht werden sollte. Er gehörte Postobersekretär Robert Utfeldt und war überflüssig geworden, weil Utfeld in der vergangenen Woche frühpensioniert worden war.

Als der Eilzug auf dem Ausrückgleis hielt, rückte Wieland Hellmich mit seiner Köf–Kleinlok an, um den Waggon ins Ladegleis zu ziehen. „Ich habe mich schon gewundert“, sagte er später, „dass es so ein großer Waggon war. Sonst haben wir doch immer den kurzen Vierachser.“ Aber er habe sich gedacht: „Die werden schon wissen, was sie tun, da draußen in den großen Rangierbahnhöfen.“

Wussten sie nicht. Der Waggon für Etwashausen landete im fränkischen Kitzingen, weil es da einen Ortsteil gleichen Namens gibt. Dabei hätte man an der Postleitzahl erkennen können, wo er hingehört.

Als der Fehler festgestellt wurde, kuppelten die Bahnarbeiter den Waggon an den Bummelzug nach Neustadt an.

Kaum war der falsche Waggon auf dem Ladegleis eingetroffen, bemerkten die Postschaffner bereits, dass da etwas nicht stimmte. Sie prüften ordnungsgemäß ihre Zuständigkeit, stellten fest, dass sie neue Anweisungen brauchten, und riefen telefonisch vom Güterschuppen-Büro aus eine Vorgesetzte.

Postoberinspektorin Anita Behling kam dann auch, kaum dass der Beleg über das postdienstliche Ferngespräch ausgefüllt war. Sie entstieg ihrem postgelben VW Standard und zeigte sich entsetzt: „Ungeheuerliche Nachlässigkeit!“

Sie überzeugte sich mit einem kurzen Gang durch den Waggon und eine Unterredung mit den darin befindlichen Beamten, dass hier eine Fehlleitung vorlag. „Dass mal ein Brief in die falsche Stadt kommt, kann ja schon mal passieren, aber gleich ein ganzer Wagen? So etwas ist mir noch nicht vorgekommen“, murmelte sie vor sich hin, als sie ins Büro zu Güterbahnhofschef Jürgen Vogel ging, um mit ihm zu besprechen, wie es weitergehen solle.

„Am besten, wir hängen ihn gleich an den Nahverkehrszug nach Neustadt an“, schlug der vor. „Aber der fährt doch so langsam“, wandte Postoberinspektorin Behling ein. „Ja, glauben Sie, ich kann Ihnen extra einen Schnellzug herzaubern, der Ihren Waggon wieder zurückbringt?“ Das sah die resolute Dame  ein. „Na gut. Aber das wird ein Nachspiel haben“, sagte sie trotzdem. „Das glaube ich auch“, sagte Vogel, der sich ein bisschen für seine Kollegen im Rangierbahnhof schämte, die er nach den bisherigen Erkenntnissen für schuld an dem Schlamassel halten musste. „Vielleicht kommt das davon, wenn man keinen Regionalbeauftragten mehr hat“, dachte er bei sich. Der Regionalbeauftragte der Bahn, Gerhard Schlupp, hatte vor zwei Wochen seinen Rücktritt eingereicht (die „Etwaigen Nachrichten“ berichteten).

So wurde der Postwaggon am Nachmittag an den Nahverkehrszug gekuppelt., und mit gedrosseltem Tempo ging es zurück nach Neustadt. Die Postbeamten im Waggon hatten sich schon bei der Abfahrt darüber beschwert, dass die Ruhezeiten nicht würden eingehalten werden können. Aber immerhin hatten sie genug Zeit gehabt, ihre Sendungen ordentlich zu sortieren, so dass schließlich die Verzögerungen bei der Zustellung im Rahmen blieben.

Unterdessen hatte Vogel Manni Lindner, den Lastwagenfahrer, mobilisiert. Lindner hatte gerade eine  Tour nach Süditalien hinter sich und deshalb ein paar freie Tage. Er sollte nun einspringen und die beiden Briefkästen und den Schreibtisch mit der posteigenen Zugmaschine auf der Straße nach Neustadt bringen. „Sonst dauert das zu lange“, meinte Vogel. Lindner war im Dorfkrug beim Frühschoppen, schwor aber, keinen Alkohol getrunken zu haben.

Hellmich besteigt die posteigene Zugmaschine, um die beiden Briefkästen und den Schreibtisch nach Neustadt zu bringen.

In der Kneipe hatte sich inzwischen eine lebhafte Diskussion um den Zwischenfall entsponnen. Utfeldt, der pensionierte Postobersekretär, amüsierte sich köstlich: „Kaum bin ich  weg, geht alles schief.“ Genoveva F. mahnte zur Zurückhaltung: „Also ich erinnere mich an einige Dinge bei der Post, die auch schon schlecht funktionierten, als Sie noch im Amt waren“, sagte sie. „Montags hat mein Briefträger manchmal regelrecht blau gemacht. Und wenn ich nur an die Telefonkosten denke.“ Und so stritten sie eine Weile weiter, bis Dorfkrug-Wirt Egon Pielke sagte: „Die bräuchten einfach mal ein bisschen Konkurrenz.“

... berichtet regelmäßig in den “Etwaigen Nachrichten” (EN) über die Ereignisse in Etwashausen. Sie erreichen Fritz P. per Elektronischer Post über das Kontaktformular oder über folgende Anschrift:

Reporterlegende Fritz P.
Etwaige Nachrichten
Hauptstraße / Markt
Etwashausen

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