Merkwürdige Aufträge von dubiosen Männern – Sinn und Zweck unklar
Etwashausen, 24. Juni (Eigener Bericht). Jahrelang hat ein Etwashausener Schrankenwärter die Bürger ausspioniert. Wolfgang Kaiser, der am Übergang Nordstadt die Schlagbäume hebt und senkt, gab im Gespräch mit den „Etwaigen Nachrichten“ (EN) zu, Daten über die Ereignisse in der Stadt in großen Mengen gesammelt und weitergegeben zu haben. Er habe diese Tätigkeit aber mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren können, gab er als Begründung an, sich jetzt zu outen. Selbstanzeige habe er noch nicht erstattet, weil er nicht wisse, ob seine Taten wirklich strafbar seien.
Kaiser äußerte sich direkt am Bahnübergang und bat darum, als Zeugen des Gesprächs mit EN-Reporterlegende Fritz P. den pensionierten Lokführer Emil Ginster hinzuzuziehen, mit dem ihn eine lange Freundschaft verbindet. „Vor etwa vier Jahren“, begann Kaiser, „erschienen zwei Männer hier und plauderten freundlich über Gott und die Welt.“ Dann hätten sie ihn nach seinen Lebensumständen ausgefragt. „Als sie herausgefunden hatten, wie wenig ich verdiene, boten sie mir einen Nebenverdienst an.“ Er müsse nur aufschreiben, wenn ihm an der Schranke oder dem nahe gelegenen unbeschrankten Bahnübergang zum Güterbahnhof Ungewöhnliches auffalle. Autos mit speziellen Ladungen zum Beispiel oder Sonderzüge hätten die Leute besonders interessiert. „Ihre Vorliebe für ausländische Wagen habe ich auch gemeldet“, gestand er dem Reporter. „Die Frage, ob Sie eine Leiche im Keller hätten, konnte ich leider nicht beantworten“, fügte er schmunzelnd hinzu.
Eines der speziellen Interessengebiete der Auftraggeber, die ihren Namen nicht genannt hätten, sei die Ausstattung der Etwashausener Bahndirektion mit Lokomotiven gewesen, sagte Kaiser. „Da musste ich nur meine Beobachtungen an der Schranke notieren und im Zweifel meine Kollegen in der Verwaltung fragen.“
Die engen Verbindungen Etwashausens nach Frankreich und einzelne schlagzeilenträchtige Ereignisse hätten die beiden Herren ebenfalls interessiert. „Am meisten wollten sie darüber erfahren, wie wir es schon mehrfach geschafft haben, die organisierte Wirtschaftskriminalität aus der Stadt und aus Wildenranna fernzuhalten“, sagte Kaiser.
Als Grund dafür, dass ausgerechnet er als Informant ausgesucht worden sei, hätten die Männer die strategische Position des Bahnübergangs angegeben. Die Straße, an der er liegt, ist die einzige Möglichkeit, mit dem Auto nach Etwashausen hinein oder aus der Stadt heraus zu kommen.
Wenig war von dem Schrankenwärter über die Auftraggeber zu erfahren. „Solange ich mein Geld bekam, war es mir auch egal“, meinte er. Sie seien meist im Taxi gekommen und hätten nahe dem Bahnübergang gewartet, bis er zweimal ein Signal mit seiner Dienstpfeife gegeben habe. Offiziell wurde das als „Prüfung der akustischen Warneinrichtung“ vermerkt, für die Männer bedeutete es: „Die Luft ist rein.“ Sie hätten ihm alle zwei Monate 150 Taler im Briefumschlag dagelassen, wenn er ihnen einen Stapel Notizen gegeben habe.
Nur einmal seien sie bei ihm in einem schwarzen VW Käfer mit Kölner Kennzeichen vorgefahren. Nach dem Treffen mit Kaiser seien sie mit dem Wagen in die Siedlung abgebogen, vermutlich zum Haus des Arztes Dr. Löther. Auf dem Nachhauseweg sei er am Arzthaus vorbeigefahren und habe „lauter große Luxuskarossen“ dort stehen sehen. Ginster warf ein, das komme öfter vor, wenn Löther Kollegen zu sich einlade. „Der Käfer war weg“, ergänzte Kaiser.
Fragen nach ihren Hintermännern seien die beiden Herren stets ausgewichen. Es sei besser für ihn, wenn er das nicht wisse.
„Die waren bestimmt selbst von der Mafia“, warf Ginster ein. „Wer weiß, was die mit Etwashausen vorhaben. Wir sollten zur Polizei gehen.“ Die könne doch wahrscheinlich gar nichts machen, entgegnete Kaiser. „Es ist doch nicht strafbar, besondere Ereignisse aufzuschreiben.“ Da musste der Reporter ihm recht geben. Irgendwie machte er ja auch nichts anderes. „Gut, dann schreiben wir das erstmal auf und bringen es in die Zeitung. Wenn die Staatsanwaltschaft meint, sie müsse das verfolgen, kann sie sich ja an uns wenden.“ Er gab allerdings zu bedenken, dass sich möglicherweise das Finanzamt an ihn wenden werde. „Kein Problem“, sagte Kaiser. „Ich habe mich gestern selbst angezeigt. Und gespart habe ich auch genug.“
Auf die Frage, ob er sich nach seiner Beichte erleichtert fühle oder ob er Angst vor Verfolgung habe, antwortete Kaiser: „Vor allem bin ich froh, dass ich jetzt nichts mehr über meine Bekannten ausplaudern muss, weil ich ja nie weiß, ob die das wirklich gewollt haben, dass ihr Leben sozusagen öffentlich gemacht wird.“ Was die besonderen Ereignisse in Etwashausen angehe, habe er sich manchmal gefragt, warum die das eigentlich von ihm wissen wollten und auch noch gegen Geld. „Sie hätten doch einfach nur die ‚Etwaigen Nachrichten’ lesen müssen.“