Station Wildenranna wegen Orient-Express gesperrt für Normalbürger –
Etwashausen, 22. April (Eigener Bericht) Hoher Besuch in Etwashausen und Wildenranna: Der Orient-Express legte einen außerplanmäßigen Halt ein und nahm einige zahlungskräftige Passagiere mit. Für sie wurde eigens ein zusätzlicher Schlafwagen angehängt. Ob der Fahrplan des Luxuszuges künftig um einen Halt in Wildenranna ergänzt wird, ist allerdings noch offen, denn die Begleitumstände des Besuchs sorgten für Kritik in der Öffentlichkeit. Deshalb wird er ein Nachspiel im Stadtparlament haben.
Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus: Am frühen Abend richtete die Polizei am Bahnhof von Wildenranna Personenkontrollen ein. „Aus Sicherheitsgründen“, wie Polizist Atze Eisenegger auf Anfrage der „Etwaigen Nachrichten“ mitteilte. Nur wer einen gültigen Personalausweis und eine Fahrkarte vorweisen konnte, durfte noch ins Gebäude. „Wir erwarten viele hohe Gäste“, ergänzte der Polizist. Mehr dürfe er nicht sagen.
Kurz darauf dieselte die V 60-Rangierlokomotive mit einem königsblauen Schlafwagen mit Holzaufbau auf Gleis 1 des Bahnhofs. Draußen fuhren Luxusautos vor, denen elegant gekleidete Menschen entstiegen. „Etwaige Nachrichten“-Fotograf Bernd Schaffrath erkannte den Arzt Paul Löther mit seinem Rolls-Royce und den als dubios verrufenen Finanzinvestor Dr. Dr. Hans Wüst in einem schon fast historischen Horch.
Eisenegger und Bahnhofsvorsteher Jacob Claus, der sich eigens auf den Vorplatz bemüht hatte, untersagten dem Fotografen jedoch, die eintreffenden Gäste abzulichten. Es sei deren Wunsch gewesen, möglichst wenig Aufhebens von der Reise zu machen, begründete Claus die Maßnahme. Bei ausreichender Nachfrage werde möglicherweise der Orient-Express künftig regelmäßig in Etwashausen oder Wildenranna halten.
Nach kurzer Fahrscheinkontrolle verschwanden die Fahrgäste im Bahnhofsgebäude und anschließend in dem bereitgestellten Schlafwagen. Von ferne hörten die Zaungäste eine Dampflok auf der Rampe aus Richtung Etwashausen ankommen. Wenig später fuhr eine majestätische belgische Lokomotive ins Bahnhofsvorfeld ein. Am Haken hatte sie mehrere äußerst gepflegte Salon- und Pullmanwagen – den Orient-Express.
Nachdem die Lok von den Waggons abgekuppelt worden war, rangierte die V 60 den Schlafwagen in den Zugverbund. Die Dampflok setzte sich am anderen Ende wieder davor.
Genoveva F., die mit ihrem Auto zufällig am Rangiergleis geparkt hatte, diskutierte mit anderen Zaungästen über die Frage, wieso der Bahnhof für Stunden quasi gesperrt werde. „Ich wollte mir nur im Kiosk etwas zu trinken kaufen, und da nehme ich natürlich nicht jedes Mal meinen Ausweis mit“, sagte sie. – „Na ja“, meinte Kulturdezernent Friedbert Dünger, der eigenen Angaben zufolge zufällig auch zum Bahnhof gekommen war. „Vielleicht wäre es zur Feststellung Ihrer Volljährigkeit auch am Kiosk ratsam gewesen, ihn dabei zu haben. Äh – das sollte ein Kompliment sein“, fügte er hinzu, um Missverständnisse zu vermeiden. Genoveva lachte gequält.
Dünger kritisierte dann ungewöhnlich deutlich das Vorgehen der Behörden und der Bahn. Es könne nicht angehen, dass die Bevölkerung auf Wunsch von „irgendwelchen Bonzen“ für mehrere Stunden Kontrollen unterworfen oder gar daran gehindert werde, am Schienenpersonenverkehr teilzunehmen. Anders als beim Besuch staatlicher Repräsentanten gebe es kein öffentliches Interesse daran, dem Geldadel ausgerechnet am Bahnhof Privilegien einzuräumen., schon gar nicht regelmäßig. „Das werden wir im Stadtrat und mit der Bahnspitze zu diskutieren haben“, fügte er hinzu.
„Da bin ich ja mal gespannt“, sagte Genoveva und ging auf die Polizisten vor dem Bahnhof zu. „Jetzt werde ich ja wohl ohne Personalausweis hier hineingehen dürfen“, herrschte sie Eisenegger an. „Seien Sie vorsichtig, was Sie sagen“, gab der zurück, ließ sie aber passieren.
Noch am selben Abend brachte Dünger nach Rücksprache mit Bürgermeister Wilhelm Meyer eine Kleine Anfrage zum Thema „Freier Zugang zum öffentlichen Schienenverkehr“ im Stadtparlament ein. Auf Basis dieser Anfrage wollen wir darüber diskutieren, wie der Zugang zu unseren Bahnhöfen künftig geregelt werden soll“, sagte er im „EN“-Interview. „Nur wenn wir da zu einer befriedigenden Lösung kommen, werden Züge wie der Orient-Express künftig in Etwashausen oder Wildenranna halten dürfen.“
Vielleicht mache die Bundesbahn ja selbst Vorschläge, bevor aus dem Vorfall eine „Haupt- und Staatsangelegenheit“ werde, ergänzte er. Das sei gar nicht so unwahrscheinlich. Der Bürgermeister habe angedeutet, dass er in einem Gespräch mit der Bahnspitze Signale erhalten habe, denen zufolge der Orient-Express das nächste Mal ohne besondere Sicherheitsvorkehrungen hier halten werde.