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Nummer 169: Der Kapitalismus und die Kupplung

Geschrieben von Thomas Rietig am 12. Dezember 2018

Bald wird die Arbeit der Rangierer deutlich erleichtert

Kupplungsvorgang beendet, ganz automatisch. Die Rangierer sind begeistert. ©alle Fotos: Etwaige Nachrichten

Etwashausen, 1. Mai 2017 (Eigener Bericht) Eine Neuordnung des Zugbildungs­mana­gements an den Personen- und Güterbahnhöfen von Etwashausen und Wildenran­na hat heftigen Protest der Gewerkschaften ausgelöst. Bundesbahn und Etwashausener Lokalbahn (ELB) wollen verschiedene Lokomotiven mit einer auto­ma­tischen Kupplung ausrüsten, die den Rangierern die Arbeit erleichtern soll. Die Arbeitnehmervertreter fürchten aber, dass die Rangierer wegrationalisiert werden sollen.

ELB-Chef Ferdinand Krutschek leaste eigens von den Neustädter Hüttenwerken eine Lok, die bereits über die automatischen Kupplungen verfügt. Mit ihr demonstrierten er und Güterbahnhofschef Jürgen Vogel den Arbeitern, wie schnell An- und Abkuppeln mit der automatischen Kupplung geht. Krutschek betonte, dass er die Veranstaltung eigens auf den Tag der Arbeit gelegt habe, um zu demonstrieren, dass die Lokalbahn sich besonders um das Wohlbefinden der Arbeitnehmer kümmere. Auch deshalb waren die „Etwaigen Nachrichten” zum Ortstermin geladen.

Rangierer Kalle Schmieder stand dabei und bekam ganz große Augen. „Da muss man nicht mehr zwischen den Puffern schrauben?”, fragte Kalle ungläubig. „Nein, der Lokführer drückt auf einen Knopf, fährt kurz vor- und rückwärts, und schon sind Lok und Wagen getrennt.”

„Und was ist mit den Leitungen für Licht, Heizung und Bremse?”

„Jetzt sei doch nicht kleinlich. Wir reden hier über was ganz Großes.”

Die grau-rote V 60 schob leise brummend eine Abteilung Behälterwagen ins Ladegleis. Lokführer Horst Schulz betätigte die ferngesteuerte Kupplung, der Bügel des Waggons schob sich nach oben. Der Rangierer klatschte Beifall.

Der Bügel des Waggons wird automatisch hochgedrückt. Ein kurzes Zurückstoßen, und Waggon und Lok sind getrennt.

Gerade als Schulz die Lok zurücksetzte, kam Klaus-Dieter Schulze-Hartnack, der stadtbekannte Alt-68er und ewige Student, um die Ecke. „So geht das nicht”, rief er aufgebracht. „Lass dich nicht aufs Glatteis führen. Die raffinierten Kapitalisten versuchen doch nur, ihren Profit zu maximieren und Leute wie du bleiben dabei auf der Strecke.”

Kalle zeigte auf einen großen Bluterguss auf seinem rechten Arm: „Weißt du, was das ist? Den habe ich von einem Kupplungshaken, der mir da drauf gefallen ist.”

„Ach, das ist ein Einzelfall. Einen blauen Fleck kannst du dir auch im Stellwerk holen.”

„Also mir würde es nichts ausmachen, einen Job mit weniger körperlicher Arbeit zu haben. Du als ewiger Student kannst dir ja nicht vorstellen, wie das ist.”

„Das musst du politisch sehen. Wir brauchen Arbeiter der Faust, damit wir nicht nur intellektuelle Kraft haben, um eines Tages die Revolution siegreich zu Ende zu führen”, sagte Hartnack leise zu dem Rangierer. Der blickte etwas verständnislos. „Revolution? Muss das sein? So schlecht geht es mir nun auch wieder nicht.”

„Da gehst du den Kapitalisten aber richtig auf den Leim. Die lullen dich doch nur ein, um dich und andere weiter ausbeuten zu können.”

„Nun ist es aber gut, Herr Schulze-Hartnack”, mischte sich Bahnhofschef Vogel ein. „Wenn Sie hier weiter solche wilden Thesen vertreten, muss ich Sie mit einem Platzverweis belegen! Ich zeige Ihnen jetzt mal, wie das normalerweise geht”, fuhr er fort und nötigte Schulze-Hartnack in seinen Dienst-Opel.

„Wo fahren wir denn hin?”, fragte dieser. „Wir fahren jetzt zum Ladegleis Wildenranna, und da zeigen wir Ihnen mal, wie ohne Automatik Kupplungen getrennt werden.” 


Die Rangierdampflok hat den Martini-Wagen am Wildenrannaer Ladegleis abgesetzt. Entkuppelt werden mussten beide per Hand.

Kurz darauf kamen sie an dem Gleis an, wo die Rangierdampflok den Martini-Wagen aus Italien an die Rampe geschoben hatte. Ein Rangierer hatte mit einer Stange die Kupplung gelöst und stand nun zwischen den Puffern, nachdem er auch noch die Leitungen getrennt hatte. „Das ist harte Arbeit”, sagte Vogel.

„Diese perfiden Pläne ändern nichts daran, dass die Automatisierung nur den Herrschenden dient”, beharrte Schulze-Hartnack auf seiner Position. „Egal, aber dank der Automatisierung geht es uns besser. Eine Revolution, nach der es mir nicht besser geht als vorher, kann mir gestohlen bleiben”, sagte der Rangierer und wischte seine schmutzigen Hände an der Arbeitshose ab.

„Außerdem”, fuhr Vogel fort, „ist das Einführen weiterer automatischer Kupplungen nur eine kleine Stufe der Automatisierung. Bis die Waggons auch damit ausgestattet werden, dauert es noch eine Weile. Das geht bisher nur an Entkupplungsgleisen.”

Entkuppeln am Entkupplungsgleis.

„Was ist das denn nun wieder?”, fragte Schulze-Hartnack. „Die sind an strategischen Stellen eingebaut, um die Lokomotiven und Waggons voneinander zu trennen. Die gibt es schon ganz lange.” 

„Puh. Ganz schön komplex, das Thema. Wie viele Rangierer gibt es eigentlich in Etwashausen und Wildenranna?”

„Zwei. Und dazu kommen die Lokführer, die das machen müssen, wenn gerade kein Rangierer da ist.” Entlassen werde hier eh niemand. Erstens weil die Rangierer Beamte seien, und zweitens weil es genügend andere Arbeit für sie gebe, wenn sie nicht mehr die Kupplungen lösen müssen.

„Vielleicht ist das hier doch nicht der richtige Ansatzpunkt für eine Revolution”, resignierte Schulze-Hartnack. Und verabschiedete sich weitgehend unauffällig mit einem gemurmelten „Rot Front”. Die Rangierer und Vogel lud Krutschek zum Frühschoppen in den Dorfkrug ein.

Thema: Nachrichten
Schlagwörter:
Bahn, Etwaige Nachrichten, Etwashausen, Kupplung, Rangieren, Telexkupplung

Thomas Rietig

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