Nummer 98: Gemeinsam gegen den Durst

Genoveva und der Bürgermeister setzen ein Zeichen

Im fahlen Licht der Scheinwerfer des Güterbahnhofs kommt wohltemperiert der Zug mit den Weinfässern an.

Etwashausen, 21. Februar (Eigener Bericht) Der Getränkenotstand ist behoben. Bürgermeister Wilhelm Meyer setzte seine ganze Autorität und seine Beziehungen ein, um die Bahn in die Schranken zu weisen, die in den letzten Tagen Getränkelieferungen verweigerten. Als Gründe führten sie versicherungsrechtliche Erwägungen an.


„Ich habe nichts mehr zu trinken!“ Der Hilferuf von Kulturdezernent Friedbert Dünger hallte durch die Flure des Rathauses. Bürgermeister Wilhelm Meyer hörte ihn und kam in das Arbeitszimmer des Dezernenten. „Ja, dann kauf’ dir doch was“, riet er. „Es gibt nichts mehr“, entgegnete Dünger. „Der Gemischtwarenladen hat keinen Sprudel mehr, im Dorfkrug wird das Bier knapp, und im Gasthof zur Post erhöhen sie fast jeden Tag die Weinpreise.“
Meyer rief bei Egon Pielke an. Der Dorfkrugwirt bestätigte ihm prompt den Missstand. „Und warum tut ihr nichts dagegen?“, fragte Meyer. Ihr müsst doch nur neues Bier bestellen, oder?”
Die Antwort verschlug sogar dem sonst so redegewandten Politiker die Sprache. Die Bahn weigere sich, angesichts der Wetterlage temperatursensible Flüssigkeiten zu transportieren, ergänzte er. Sie habe neulich eine Beschwerde erhalten, und der Beschwerdeführer habe mit einer Klage wegen zu warmen Weißweins gedroht.
„Das kann doch nicht sein“, meinte Meyer und telefonierte mit dem Vorsteher des Güterbahnhofs, Jürgen Vogel. „Ja“, sagte der, „ich versuche auch schon seit Tagen, den Regionalbeauftragten Schlupp zu überreden, uns wieder Bier, Wein und Wasser zu liefern. Aber er sagt, bevor die Versicherungsfragen nicht geklärt sind, geht nichts.“

In Fässern und in großen Tankcontainern trafen die Getränke in Wildenranna ein. Genoveva als Getränke-Beauftragte (vorn auf der weißen Bank) passt auf, dass auch alles mit rechten Dingen zugeht.

„Also dann nehmen wir das mal in die Hand“, beschloss Meyer und fuhr zum Dorfkrug. Am Stammtisch hielten sie Kriegsrat. „Du bestellst die Getränke“, sagte Meyer zu Pielke, „und ich rufe beim Bahnvorstand an. Genoveva“, er wandte sich an die ehemalige stadtbekannte Alkoholikerin, „dich ernenne ich zur Getränkebeauftragten. Du sorgst dafür, dass alles ordentlich abgewickelt wird. Du kümmerst dich um die Logistik.“ Genoveva nickte. „Mit Getränken kenne ich mich aus.“ Aber zuerst rief sie die „Etwaigen Nachrichten“ an. Meyer benachrichtigte noch die Versicherung. Deren Manager erklärte, es habe noch nie Schadenersatzforderungen wegen Getränken gegeben, die während eines Eisenbahntransports verdorben worden seien – weder in der größten Hitze noch bei klirrendem Frist. „Dafür haben die doch Kühlwagen.“
Pielke wies sie ein, und sie riefen die anderen Gastronomen und Ladenbesitzer an und gaben Sammelbestellungen auf. „Den Wein lassen wir nachts liefern“, sagte Genoveva, „da ist die Temperatur einigermaßen konstant.“ Sie bestellte extra Fasswagen aus Frankreich. „Die müssen sich ja mit dem Zeug auskennen.“
Meyer blieb am politischen Referenten von Bahnchef R. G. hängen. „Herr G. ist in einer Besprechung, kann ich Ihnen helfen?“ Der Bürgermeister sagte, der Vorstand möge bitte Herrn Schlupp anweisen, die Transporte so schnell wie möglich durchzuführen. Hier gehe es schließlich um Daseinsvorsorge.
Der Referent machte einen leicht eingeschüchterten Eindruck und versprach, für glatte Abwicklung zu sorgen. Genoveva informierte Güterbahnhofschef Vogel, dem man eine leichte Schadenfreude anmerkte, dass seinem Vorgesetzten, dem Regionalbeauftragten, endlich mal der Marsch geblasen wurde. „Klar halte ich das Ladegleis von Wildenranna frei. Da kann das Bier aus den Fässern umgeladen werden, und der Bockkran schafft die Container auf den Magirus.“ In der Nacht sollte dann der Zug mit dem Wein in Etwashausen einfahren.
Zwei Tage später hatte Dünger die letzte Flasche Wasser geleert. Aber die Rettung nahte auf der Schiene. Gerhard Schlupp hatte am Ende doch klein beigegeben, aber erst nachdem die Stadtverwaltung von Etwashausen ihm schriftlich zugesichert hatte, keine Regressforderung für den Fall zu stellen, dass Getränke aus witterungsbedingten Gründen verderben würden. Meyer hatte aus der schwarzen Kasse der Kommune den Anwalt Michael Fürst beauftragt, diese Zusicherung so zu formulieren, dass am Ende doch wieder die normalen Geschäftsbedingungen galten. Das sollte sich als überflüssige Vorsichtsmaßnahme erweisen, denn wie so oft in Etwashausen, ging alles glatt, als es wirklich drauf ankam. Als die V 60 den gedeckten Güterwagen und die Biercontainer aufs Ladegleis rangierte, war Genoveva schon da und passte auf, dass nichts schief ging.

Der Opel Blitz von Wimo-Sip fährt am Dorfkrug vor. Wasser, Wein und Bier stehen den Gästen wieder zur Verfügung.

Je eine Ladung Fässer brachte der Opel Blitz zum Dorfkrug, zu Pits Café und zum Gasthof zur Post. Dazu kamen einige Kästen Wasser. Nachts kam der Wein planmäßig in zwei Fasswagen in Etwashausen an, und alles war wieder in Ordnung.
Genoveva nahm persönlich einen Kasten dänisches Bier unter ihre Fittiche. „Nein, ich trinke den nicht ganz alleine“, beruhigte sie Vogel, der ihr zusah, wie sie den Kasten in den Kofferraum ihres Hotrods praktizierte. „Den bringe ich ins Rathaus, damit der Bürgermeister mit dem Kulturdezernenten auf seinen Erfolg trinken kann.“

... berichtet regelmäßig in den “Etwaigen Nachrichten” (EN) über die Ereignisse in Etwashausen. Sie erreichen Fritz P. per Elektronischer Post über das Kontaktformular oder über folgende Anschrift:

Reporterlegende Fritz P.
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Etwashausen

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