Etwashausener Maibaum verschwand vorübergehend
Etwashausen, 24. April (Eigener Bericht) Zum ersten Mal seit Jahren ist es in der Stadt wieder zu einem fast kriminellen Akt gekommen: Unmittelbar vor dem geplanten Aufstelltermin wurde der Maibaum geklaut. Dank günstiger Umstände gelang es jedoch den Ermittlern und der Dorfjugend, ihn wiederzubeschaffen und rechtzeitig aufzurichten. Die Verantwortlichen für die ruchlose Tat wurden von Bürgermeister Wilhelm Ulrich persönlich amnestiert.
Das rund 13,5 Meter hohe Objekt der Begierde, eine Fichte aus dem Wald hinter der Forsthauskurve, hatte der Stadtrat vor einiger Zeit nach einem Ortstermin ausgewählt. Über alle Parteigrenzen hinweg fasste er den Beschluss: „Am 1. Mai wollen wir ein deutliches Zeichen der zugleich fortschrittlichen und zukunftsorientierten Ausrichtung der Etwashausener Stadtpolitik setzen.“ Darin legte er fest, dass der Baum auf seinen diversen Stationen vom Wald bis zum Stellplatz „überwiegend“ mit der Bahn transportiert werden wolle.
Um dies feierlich zu gestalten, wurde eigens Feuer unterm Kessel der alten 86-er im Fotoanstrich aus dem Museum angefacht. Die Bahn trat ebenso wie die Farben AG als Sponsor auf. Freiwillige aus der Bürgerschaft sollten im Hof der Chemiefabrik den Maibaum lackieren und schmücken, nachdem er im Sägewerk von Wildenranna seine endgültige Form erhalten hatte. Anschließend war zum Aufstellort vor dem Dorfkrug ein festlicher Transport über die Straße geplant.
Der Transport verzögerte sich jedoch unerwartet, weil der bereits fertige, ordnungsgemäß weiß-blau von links nach rechts aufsteigend gestrichene Baum des Nachts samt dem Waggon, auf dem er lagerte, und der Zuglokomotive verschwand. Obwohl es sich um eine Dampflokomotive handelte, ging der Klau so geräuscharm vor sich, dass am nächsten Morgen niemand etwas gehört oder gerochen haben wollte. Fast niemand, denn Bahnhofsvorstand Jakob Claus versuchte eigenen Angaben zufolge gegen zwei Uhr morgens die Polizei anzurufen. „Ich schlafe ja bei offenem Fenster, und da entgeht mir normalerweise nichts. Ich roch den Dampf der 86-er, aber leider dachte ich erst, ich träume. Bis ich mir bewusst wurde, dass auf dem Werksgleis ja wirklich eine Lok mit Ruhefeuer übernachtete, war sie schon längst weg.“ Bei der Polizei sei niemand ans Telefon gegangen.
Hauptwachtmeister Uwe D. bestätigte am Morgen kleinlaut: „Bei uns ist die Wache von 21 bis 5 Uhr unbesetzt, da in dieser Zeit eh niemand auf die Straße geht.“ Sachlich hatte er recht: Von einigen verspäteten Zügen abgesehen, hielten sich das Nachtleben und erst recht die Kriminalität in Etwashausen in so engen Grenzen, dass es keiner Ordnungsmacht bedurfte. Bei dem letzten in der Stadt registrierten kriminellen Akt hatte es sich vor zehn Jahren um Zechprellerei und Kreditbetrug gehandelt (die EN berichteten).
Nur kurz nach Bekanntwerden des Diebstahls meldete sich der Täter bei Dorfkrug-Wirt Egon Pielke, der ihn gut kannte. Es war Junglokführer Ralf Adler aus Wildenranna. „Ich wollte die Tradition aufrecht erhalten“, sagte er zur Begründung. Entschuldigen wolle er sich nicht.
„Weißt du nicht, dass die Polizei nach dir fahndet?“, fragte ihn Pielke.
„Dafür kann ich nichts“, sagte Adler. „Maibäume werden geklaut, das gehört einfach dazu. Und wer die Tradition kennt, weiß: Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Polizei nicht eingeschaltet wird.“
„Da hast du natürlich auch wieder recht“, räumte Pielke ein. „Und wie machen wir jetzt weiter?“
„Du und der Maibaumaufstellungsverein geben mir einen aus und halten mich bei der Maifeier frei. Wenn ihr mir das versprecht, bringe ich den Baum rechtzeitig wieder zurück.“
„Aber als erstes rufen wir jetzt die Polizei an, dass sie die Fahndung beendet.“
Gesagt, getan. Hauptwachtmeister D. war erleichtert, dass seine kreative Dienstplangestaltung keine schwerer wiegenden Folgen gezeitigt hatte.
„Und jetzt trinken wir einen, und dann bringst du den Zug wieder zurück“, schlug Pielke vor.
„Bloß nicht“, sagte Adler, “dann mache ich mich ja wirklich strafbar. Ich fahre jetzt wieder mit meinem Auto zum Maibaum und bringe den Zug zurück.“
Es dauerte nicht lange. Gerade mal einen Tag war der Maibaum verschwunden. Adler hatte ihn – übrigens mit Genehmigung der Oberzugleitung, die bei dem Streich gerne mitmachen wollte – auf einem verkrauteten, selten befahrenen Nebengleis in der Nähe von Neustadt abgestellt. In der folgenden Nacht dampfte er mit seinem Bedarfsheizer Martin Schell von dort aus wieder zum Anschlussgleis der Farben AG.
Als es hell wurde, trugen alle Maibaumfreunde gemeinsam das gute Stück die kurze Strecke zum Dorfkrug. Dort richteten sie es mit Hilfe des alten Lanz-Bulldogs von Bauer Hartmut Wolf auf. Sofort sammelten sich Schaulustige auf dem freigeräumten Parkplatz der Wirtschaft, und obwohl noch keine Bänke aufgebaut waren, hatten Pielke und seine Kellnerinnen alle Hände voll zu tun. Diesmal sagte auch Adler nicht nein. Er trank mit dem Bürgermeister und versprach, künftig Recht und Gesetz zu achten, bestand aber zugleich darauf, dass in der Stadt auch die Tradition hochgehalten werden müsse. Vor allem erklärte er sich bereit, an den Nachtwachen teilzunehmen, damit der Baum bis zur Maifeier nicht noch einmal geklaut würde.